An manchen Stellen sucht man Digitalisierung in Deutschland vergebens, man denke zum Beispiel an Amtsgänge, Internetabdeckung oder das Schulsystem. Estland hingegen gilt als Vorzeigeland der Digitalisierung, weswegen wir in uns diesem Beitrag anschauen, wie Estland die Digitalisierung vorantreibt und was wir davon lernen können.
Rückgrat ist in Estland das Datenaustauschsystem X-Road. Dieses ermöglicht den Datenaustausch zwischen autorisierten Datenbanken, wobei streng geregelt ist, wer was speichern und worauf zugreifen darf. Daten werden nicht zentral, sondern dort gespeichert, wo sie entstehen. Mittlerweile sind über 600 Institutionen und Unternehmen und über 500 Institutionen des öffentlichen Sektors angebunden. Gesichert ist das Ganze über die Blockchain-Technologie. Jeder Bürger kann sich in die X-Road einloggen, auf alle seine Daten zugreifen und nachvollziehen, wer seine Daten wann angesehen oder genutzt hat. Mit der X-Road hat Estland eine leistungsfähige und pragmatische Lösung für Datensicherheit, Datenaustausch und Datensouveränität des Einzelnen entwickelt. Die Summe der Digitalisierung von staatlicher Regierung, Gesetzgebung, Verwaltung und des Geschäftsverkehrs wird von Estland als e-Estonia bezeichnet und sogar auch vermarktet. So hat Estland das eigene System auch in andere Länder wie Aserbaidschan oder die Färöer vermittelt.
Estland ermöglicht die Identifizierung eines Bürgers digital und hat die Bürgerdienste schon vor Jahren ins Internet verlegt: Nahezu alle Behördenangelegenheiten – mehr als 3000 Dienstleistungen – können mit ein paar Klicks von zu Hause aus erledigt werden. Inzwischen laufen so 99 Prozent aller staatlicher Verwaltungsleistungen über das Internet. Als Schlüssel dient die Bürgerkarte, die gleichzeitig Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte, Bibliotheksausweis, Steuernummer, Gesundheitskarte und mehr ist. Jeder volljährige Bürger besitzt solch eine ID-Chipkarte, mit der der Großteil der Behördengänge vom PC aus erledigt werden kann. Mit der Karte kann außerdem das Strafregister eingesehen, gewählt oder Neugeborene registriert werden. Auch die Steuererklärung erfolgt digital: 2017 wurden in Estland 95 Prozent der Einkommensteuererklärungen elektronisch abgegeben, wofür ein Steuerzahler nach Estlands Angaben nur zwischen drei und fünf Minuten benötigt. Lediglich bei einer Hochzeit, Scheidung oder dem Kauf einer Immobilie müssen Esten persönlich beim Amt erscheinen.
An dem System wird fleißig weiter getüftelt, so soll vieles künftig automatisiert erfolgen, etwa bei der Geburt: Das Krankenhaus meldet den Nachwuchs bei den Behörden an. Gleichzeitig wird das Neugeborene bei der Krankenversicherung angemeldet (in Estland gibt es nur eine) und die Registrierung von Sozialleistungen, wie z.B. Kindergeld, vorgenommen. Die Eltern werden per E-Mail informiert, auf welche Leistungen sie Anspruch haben. Die Nachricht brauchen sie nur noch zu bestätigen. Die Antragstellung bei den Behörden, die bisher nach der Geburt nötig war, entfällt.
Wie sollte es anders sein – auch im Bereich digitales Klassenzimmer nimmt Estland eine Vorreiterrolle ein. Seit Ende der 90er Jahre haben alle Schulen des Landes Zugang zum Internet. Robotik-Projekte finden bereits im Kindergarten statt, Programmieren steht ab der ersten Klasse auf dem Lehrplan und ab der vierten Klasse das Thema Sicherheit im Internet beleuchtet. Der Unterricht wird außerdem technisch unterstützt, sodass Kinder direkt den Umgang mit der Digitalisierung erlernen.
Ein Service namens eKool hilft Kindern, sich an elektronische Dienste zu gewöhnen. Der Schulalltag wird zum Großteil über eine Online-Plattform organisiert, die fast alle Lehrer, Schüler und Eltern nutzen. Diese Plattform dient für viele Zwecke, wie etwa Lehr- und Stundenpläne, oder die Dokumentierung von Fehlzeiten. Auch Schulnoten und Hausaufgaben können in Estland digital eingesehen werden. Eltern können auf die Daten zugreifen, dem Lehrer Nachrichten schicken oder Entschuldigungen hochladen.
Die Regierung hat zudem auch in Bildung für die ältere Generation investiert. 2009 startete ein Programm für ältere Menschen mit dem Namen Ole kaasas. Der Unterricht findet im ganzen Land statt und das Programm bietet Zuschüsse für den Kauf von Computern für Senioren. Über zwei Jahre wurden 40.000 Menschen ausgebildet.
Laut der Smart-Health-Studie der Bertelsmann Stiftung vom November 2018 ist Estland Spitzenreiter im Bereich Digital Health. So gehören E-Rezept, elektronische Patientenakten und ein nationales Gesundheitsportal schon längst zum Alltag.
Im Mittelpunkt des digitalisierten Gesundheitswesens steht die 2008 eingeführte elektronische Patientenakte. Diese enthält sämtliche medizinischen Daten, die ein Versicherter der staatlichen Einheitskrankenversicherung und als Patient ansammelt – so etwa Daten zu Arzneien, Allergien, Blutgruppe und Vorbehandlungen. Auch, ob ein Patient Organspender ist oder Befunde und Einweisungs- und Entlassbriefe für die stationäre Versorgung sind über die elektronische Patientenakte einsehbar. Diese Informationen können im Notfall abgerufen und vom Rettungswagen an die Klinik gesendet, Ärzte und Ressourcen entsprechend organisiert werden. Bürger können ihre eigenen Daten jederzeit abrufen und u.a. einsehen, was die einzelnen Leistungserbringer abgerechnet haben. Jeder Patient kann festlegen, was welcher Arzt zu sehen bekommt, wenn er auf die Akte zugreift und außerdem auch prüfen, ob sich sonst jemand Zugang verschafft hat. Wenn dem der Fall sein sollte, können sie dies melden. Falls sich jemand ohne Grund einloggen sollte, kommt es zur Strafverfolgung bis hin zum Verlust der ärztlichen Zulassung.
Auch das E-Rezept hat sich erfolgreich etabliert. Monatlich werden etwa 800.000 E-Rezepte ausgestellt, die freie Apothekenwahl bleibt garantiert. Das E-Rezept ermöglicht (Wiederholungs-)Verordnungen mit wenigen Klicks und zeigt Ärzten die jeweils preisgünstigste Verordnungsalternative auf. Seit 2016 weist das System Ärzte und Apotheker außerdem auf mögliche Wechselwirkungen hin. Pro Monat gibt es seitdem durchschnittliche 2.200 Warnhinweise.
Auch elektronische Konsultationen zwischen Haus- und Fachärzten sind möglich. Sehr gut funktioniert der Austausch und Zugriff von Kliniken und Ärzten auf ein elektronisches Archiv, in dem Ergebnisse und Images von bildgebenden Verfahren (zum Beispiel Röntgen, MRT, CT) hinterlegt sind – das spart Zeit und Geld für unnötige Doppeluntersuchungen.
Bei uns in Deutschland klingt einiges davon noch nach Zukunftsmusik. Bis zum Jahr 2022 sollen erst einmal ca. 500 Verwaltungsleistungen – etwa der Antrag für einen Personalausweis oder Führerschein – überhaupt erst einmal nach einheitlichen Standards online angeboten werden. Auch der Zugang zu Internet macht einen großen Unterschied: In der Bahn, auf dem Land oder bei einem Waldspaziergang sucht man in Deutschland oft vergeblich Internetempfang. In Estland ist die WLAN-Abdeckung hingegen zu 99 Prozent vorhanden. Sogar am Strand oder in einem Wald kann man ohne Probleme im Internet surfen. Die Esten haben zudem freien Netzzugang in ihrem Grundrecht verankert.
Estland war für eine geraume Zeit ein Teil der Sowjetunion. Als diese zerbrach, standen das Land vor einer großen Herausforderung: Das Land eigenständig aufzubauen, obwohl wenig Mittel zur Verfügung standen. Daher entschied sich das baltische Land dazu, auf die Digitalisierung zu setzen. Das Geheimnis liegt darin, dass das Land nicht versucht, alten staatlichen Strukturen einen digitalen Anstrich zu verpassen. Stattdessen wurden bürokratische Mechanismen mit der Vision einer Zukunft entwickelt, in der es keine Papiere und Briefmarken mehr geben wird. Die Strategie führte dazu, dass Estland mittlerweile überall Aufsehen erregt und von zahlreichen Politikern aus der ganzen Welt besucht wird, um von den Vorreitern zu lernen.
https://www.fr.de/politik/digitalisierung-estland-ist-deutschland-um-einiges-voraus-13434697.html
https://www.flurfunk-dresden.de/2019/11/18/von-estland-lernen-digitalisierung-mit-ermutigungsfaktor/
https://www.businessinsider.de/tech/wie-estland-zum-wohl-digitalsten-staat-der-welt-wurde-2018-6/
https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Estland-als-Digitalisierungs-Vorreiter-226059.html
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/e-wie-e-health-e-wie-estland/
https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/reinhard-mohn-preis/projektnachrichten/recherchereise-estland
https://de.wikipedia.org/wiki/X-Road
https://www.gg-digital.de/2019/06/ein-kleines-land-schreibt-e-health-gross/index.html
https://www.management-circle.de/blog/estland-europaeisches-vorbild-in-sachen-digitalisierung/
https://tci-partners.com/digitalisierung-und-bildung-in-estland-ein-leuchtendes-vorbild-in-der-digitalen-transformation-eines-ganzen-landes/
https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/estland-digitalisierung-an-schulen-zu-besuch-im-digitalen-klassenzimmer-a-1176271.html